Hans-Joachim Knabe: Meine Zeit im Lager

ku_0015 Heute besuchten mich die zwei „Sechziger aus den 60ern“, die eigentlich „Siebziger aus den 50ern“ sind, nämlich Hans-Joachim Knabe und Fritz Mittelstädt. Außer einem anregenden Gespräch über alte Zeiten gestützt durch alte Fotos gab es bei der Gelegenheit Neues für diesen Blog.

Fritz Mittelstädt brachte einen Ordner mit alten Zeitungsausschnitten aus dem Jahr 1951 mit, aus denen ich demnächst einige interessante Artikel hier veröffentlichen werde. Und Hans-Joachim Knabe hatte seine Erinnerungen an seine Jugendjahre im Flüchtlingslager zu Papier gebracht, die ich im Folgenden den Lesern vorstellen möchte.


knabe01 Mein Name ist Hans-Joachim Knabe. Ich habe von 1946 bis 1954 im Flüchtlingslager in Süderbrarup, Schleswiger Straße 59-61 gelebt. Genau genommen wohnten wir in einem der fünf Behelfsheime in der Hinterseite des Lagers. Der Wohnwagen von Rahn stand ca. 50 Meter von uns entfernt. Wir, das waren mein Vater Paul, meine Mutter Lisbeth und meine vier Jahre ältere Schwester Rosemarie. Ich war 1946 acht Jahre alt.

Wir stammen aus Breslau und sind im Januar 1945 bei klirrender Kälte zu Fuß vor der Roten Armee geflüchtet. Unsere Irrfahrt dauerte über ein Jahr bevor wir aus Segeberg kommend in Süderbrarup eintrafen.

Nach einiger Zeit in der hinteren großen Lagerbaracke zogen wir mit einem Ehepaar in eines der fünf Behelfsheime. Allerdings stand uns nur einer der beiden Räume zur Verfügung. Das waren knapp zehn Quadratmeter für 6 Personen. Da standen die Betten dreifach übereinander. Gekocht wurde zunächst über einem Holzfeuer zwischen zwei Steinen vor der Tür. Später besserte sich die Lage und wir hatten das ganze Behelfsheim für uns zur Verfügung.

Da es in den Räumen zwar Stromanschluss aber keine sanitären Einrichtungen gab, waren wir während der Lagerzeit auf die Sammelplumpsklos und die Waschbaracke angewiesen. Das war besonders im Winter sehr unangenehm. Es gab aber auch große Kochkessel im Lager, in denen die Frauen nach der Zuckerrübenernte große Mengen Sirup kochten.

polizei Das Rübenziehen während der Wachstumsphase war übrigens eine der wenigen Verdienstmöglichkeiten. Man bekam 30 Mark für einen Morgen(= 1/4 Hektar). Viele Lagerbewohner nahmen das wahr. Eine weitere Arbeitsmöglichkeit für Frauen war die Fischfabrik in der Schleswiger Straße. Leider wurde sie später durch Brandstiftung vernichtet.Meine Mutter hatte einen kleinen Job bei der Polizei am Lagereingang. Sie arbeitete dort als Putzfrau

Für uns Kinder war die Lagerzeit trotz vieler Einschränkungen sehr schön. Es mangelte uns nie an Spielgefährten und das Spielzeug bauten wir uns selber. Die beliebtesten Spiele waren: „hands up“, eine Art Räuber und Gendarm, Völkerball, Fußball und manchmal Schlagball.

Im Herbst ließen wir Drachen steigen. Die bauten wir natürlich auch selber und die waren auch ganz speziell. Sie waren fast alle schwarz und hatten die Schlüsselweite von einem Meter. Deshalb nannten wir sie „Metersonne“. Die großen Papierbogen für den Bau standen offensichtlich nur in schwarz zur Verfügung. Die großen Abmessungen wurden deshalb gewählt, weil wir zum Drachensteigen meistens nur Bindegarn aus Selbstbindern zur Verfügung hatten. Das war einfach zu schwer für kleinere Modelle.

Als Anführer, als Drachenbauer und auch bei der Herstellung von Fletschen, Krampengewehren (die ganz präzise schossen) und Funken tat sich ein Lagerjunge besonders hervor. Das war Gerri Grams. Leider ist er schon verstorben. Mit ihm habe ich einen großen Teil meiner Freizeit verbracht. Er war vier Jahre älter als ich, spielte aber trotzdem mit uns Jüngeren. Er lernte später Autoschlosser bei der Firma Lorenzen. Da stieg er noch mehr in unserer Achtung.

rahn Ein besonderes Original im Lager war der schon erwähnte Rahn. Wann er ins Lager gekommen ist, kann ich nicht mehr sagen. Irgendwann war sein Wohnwagen da. Er hatte eigentlich immer ein offenes Ohr für uns Kinder und hatte deshalb auch viel Besuch. Technisch und handwerklich war er wohl recht begabt. Sein Gang war etwas hakelig, aber er baute aus ziemlichem Schrott gut funktionierende Fahrräder. Ich war kurz davor, eines davon für sieben Mark zu kaufen, da sagte meine Mutter: „Warte ab, du hast bald Konfirmation !“. Das war ein guter Rat meiner Mutter. Ich konnte mir tatsächlich vom Konfirmationsgeld beim Versandhaus Stricker ein neues Fahrrad bestellen.

Von Rahn war bekannt, dass er außergewöhnlich gut Schach spielen konnte. Er soll sogar ostdeutscher Meister gewesen sein. Später habe ich gehört, dass er häufig gegen Dr. Brackmann gespielt hat. Angeblich hat dieser aber nie gewonnen.

Rahn hatte auch eine technische Erfindung gemacht, die er später patentieren lassen wollte. Es ging dabei um einen Motorroller, der so verkleidet war, dass man in einer Art Kabine saß. Über Bowdenzüge und Federn schlossen sich die Seiten, wenn man die Füße auf den Boden des Rollers setzte. Leider ist dann aus der Sache wohl doch nichts geworden. Er hatte sogar schon ein funktionsfähiges Modell davon gebaut.

Eine ganz tolle Sache – besonders in den Behelfsheimen – war, dass man sich Tiere halten konnte. Unser erstes Tier war ein rotbraun getigerter Kater: „Peterle“. Wir bekamen ihn, als er noch ganz jung war. Er gewöhnte sich schnell an uns, wurde sehr schmusig, aber auch ein toller Mäusefänger. Er   war Freigänger, schlief aber, wenn er zu Hause war, meistens in meinem Bett.

Als nächstes kamen Hühner dazu. Das ging ganz einfach, Wir bauten uns einen Hühnerstall und einen Auslauf hinter dem Behelfsheim. Dann holten wir uns Tagesküken von der Geflügelfarm ganz in der Nähe. Sie sollten als Hähne sortiert sein und kosteten 25 Pfennige/Stück. Es waren aber auch immer Hennenküken dabei, die später für frische Eier sorgten. Das war eine wichtige Ergänzung zu unserer kärglichen Ernährung. Da ließ sich dann auch Zuckerei herstellen. Ich hatte sonst nichts, was ich Schulfreunden anbieten konnte, wenn sie mich im Lager besuchten. Danach hatte ich auch noch Zwerghühner, aber mit der Zucht klappte es nicht so richtig.

knabe02 In der 5. Klasse lernte ich dann meinen besten Freund kennen, Fritz Mittelstädt. Er wohnte nicht im Lager und seine Mutter war Lehrerin an der Volksschule. Es war nur zu unserer Freundschaft gekommen, weil mein Lehrer „Igel“ Johannsen mich Ende der dritten Klasse in die fünfte Klasse versetzte. Er sagte: „Du bist ein Jahr zu alt!“

Fritz besuchte mich häufiger im Lager und wir wurden richtig gute Freunde. Mit seiner Hilfe unternahmen wir Radtouren, die ich mir sonst gar nicht leisten konnte. Später machten wir zusammen Mittlere Reife.

Eines Tages schickte uns mein Vater zu einem Bauern nach Loit. Wir sollten einen Handwagen und einen Kartoffelsack mitnehmen. Dort übergab uns der Bauer ein 50 Pfund schweres Schweinchen.  Mein Vater hatte es als Arbeitslohn bekommen. Zu Hause angekommen nannten wir es „Nuscher“. Wir hatten es sehr schnell in unser Herz geschlossen. Nuscher lief im Hühnerauslauf umher und ließ sich auf dem Rücken liegend kraulen. Er benahm sich mehr wie ein Hund als wie ein Schwein. Als er geschlachtet wurde, war das ein sehr trauriger Tag in meinem Leben.

vereinshaus Aber es kam noch viel schlimmer für mich. 1953, acht Tage vor Weihnachten starb mein Vater ganz plötzlich an einem Herzinfarkt. Er war nur 68 Jahre alt geworden. Das war das traurigste Weihnachtsfest meines Lebens.

1954 nahm darauf meine Mutter die Stelle der Hausmutter bei der Christlichen Gemeinschaft in der Schleswiger Straße an. Dort bekamen wir auch eine Wohnung. Damit endete meine Zeit im Flüchtlingslager. In die neue Wohnung nahmen wir auch „Peterle“ auf. Wir hatten ihn dort noch einige Jahre.

Wenn ich die Lagerzeit rückblickend betrachte, muss ich sagen: Trotz der äußerst ärmlichen Verhältnisse habe ich doch eine schöne, ereignisreiche Jugend gehabt. Ich habe viele positive Dinge gelernt und erfahren, die mein Leben geprägt haben !

Heute lebe ich mit meiner Frau Traute, einer Hamburgerin, und Kater Popeye in unserem schönen Haus in Hamburg-Niendorf. Unsere erwachsenen Töchter Nicola und Susanne sind schon lange aus dem Haus.

Nach Süderbrarup komme ich immer wieder gern zurück, denn im Flüchtlingslager habe ich den größten Teil  meiner Jugend verbracht.

 

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2 Antworten zu Hans-Joachim Knabe: Meine Zeit im Lager

  1. Jan Sieber sagt:

    Hallo Herr Knabe,

    was hat Sie denn nach Hamburg geführt ? Ich kenne die Gemeinschaft in der Landeskirche auch ziemlich gut. War aber in den 80er Jahren. Lebe jetzt auch in Hamburg.
    Viele Grüße
    Jan Sieber

  2. Meike Marxen sagt:

    Vielen Dank für das Teilen dieser sehr persönlichen Erfahrungen. Hat mich beim Lesen sehr berührt.

    Herzlichen Gruß
    Meike Marxen

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